Der Angriffstrupp

Dienstagnachmittag ca. 15 Uhr. Ein ganz normaler Arbeitstag mit viel zu tun und in anderthalb Stunden schon der nächste Kundentermin. Der Piepser geht runter: „Technische Hilfe 2 – Verkehrsunfall schwer B27 Höhe Riedsee, mehrere Personen eingeklemmt“. Ich springe sofort und ohne zu zögern vom Schreibtisch auf und renne Richtung Ausgang. Kurz vor dem Öffnen der Türe rufe ich meiner Kollegin noch zu: „Piepser ist runter, Verkehrsunfall. Das dauert vermutlich länger“.

Ich renne ans Feuerwehrgerätehaus. Nach ca. 1 Minute im Sprint bin ich dort. Da ich der Erste im Gerätehaus bin, renne ich in den Funkraum und gebe der Leitstelle Bescheid, dass wir den Einsatz übernehmen und öffne die Hallentore, damit meine Kameraden es leichter und schneller haben, in die Halle zu kommen.

Umziehen. Schon im Rennen habe ich mein Hemd und meine Jacke ausgezogen, sodass ich sie nach dem Einsatz nicht gleich durchgeschwitzt in die Wäsche werfen muss. Einsatzhose und Stiefel anziehen. Währenddessen gehe ich im Kopf bereits diverse Szenarien durch. Die Jacke werfe ich mir nur über und nehme den Helm in die Hand. Mittlerweile sind vier weitere Kameraden da und ziehen sich ebenfalls um. Einer von ihnen, der gerade vom Hohen kommt ruft: „Das muss am Zubringer sein! Schon ein heftiger Stau!“. Jan-Philipp, der sich gerade neben mir umzieht gibt kurze Kommandos: „Christof, du fährst! Steffen – Angriffstrupp! Ich mach Gruppenführer!“.

Also bin ich Angriffstrupp. Für mich bedeutet das, dass ich ganz vorne bin. Dem Eingeklemmten werde ich ganz nahe sein, die Verletzungen sehen und seine Schreie, sollte er nicht ohnmächtig sein, direkt neben mir hören.

Ich sitze im Fahrzeug, mache meine Stiefel richtig zu und ziehe mich fertig an. Die Einweg-Gummihandschuhe richte ich gleich nach dem Anziehen noch so hin, dass jeder zugreifen und sie auch anziehen kann.

Hinten sind wir mittlerweile zu dritt. Schon lange kein schwerer Verkehrsunfall mehr gewesen. Alle sind leicht nervös und angespannt. Ein weiterer Kamerad springt halb angezogen ins Fahrzeug. Wir fahren los.

Nur dreieinhalb Minuten nachdem der Piepser ausgelöst hat sind wir mit Blaulicht und Martinshorn unterwegs. Im Rausfahren sehen wir noch, wie viele weitere Kameraden über den Hof rennen. Manche in Arbeitskleidung, dazwischen welche im Anzug.

Es ist ruhig im Fahrzeug. Hinten besprechen wir uns wer was macht. Hoffen, dass es nichts Ernstes ist, wie bei den letzten beiden Einsätzen und wir nur Betriebsstoffe von einem Auto aufnehmen müssen. Von vorn hört man Funksprüche: „laut Anrufern mehrere Personen in Pkws eingeklemmt“. Alle sind plötzlich noch konzentrierter und fokussierter. Jetzt kommt es drauf an! Alle sind in Gedanken ...

Wir schauen in Fahrtrichtung, um zu sehen, was uns gleich erwartet. Vorn beginnt der Maschinist zu fluchen, weil mehrere Fahrzeuge beginnen auf der Straße zu wenden und uns die Fahrt versperren. Wir sind durch und sehen die Einsatzstelle. Ein Kombi und ein Kleintransporter frontal aufeinander. Beide sehen an der Fahrzeugfront komplett eingedrückt und zerstört aus. Oje - das wird hart.

Das Martinshorn geht aus, nachdem wir wenige Minuten unterwegs waren. Noch im Anhalten ruft der Gruppenführer: „Alle absitzen – Angriffstrupp zur Erkundung mit mir!“. Wir springen aus dem Fahrzeug und rennen zu zweit zum Gruppenführer. Zwei aufgelöste junge Frauen laufen uns entgegen: „Schnell – da ist noch jemand im Fahrzeug.“ Im Kleintransporter ist keiner mehr – Gott sei Dank. Am Kombi ist es anders. Der Fahrer sitzt im Fahrzeug. Sein Kopf hängt leblos nach vorn. So gut wie alle Airbags scheinen ausgelöst zu haben. Das Armaturenbrett und das Lenkrad sind weit nach hinten gedrückt. Der Gruppenführer spricht den Eingeklemmten an. Man sieht ihm aber schon an, dass wir ihm wohl nicht mehr helfen können. Hinter ihm sitzt ein junger Mann. Er hat ein schmerzverzerrtes Gesicht und schaut uns mit großen Augen an. Von der anderen Seite des Autos hören wir eine Frau rufen: „Schnell! Mein Mann! Mein Mann!“.

Unsere beiden anderen Kameraden haben zwischenzeitlich begonnen die benötigten Geräte bereit zu stellen. Mein Truppmann sagt leise in meine Richtung: „Wie machen wir’s?“ Gerade in diesem Moment kommt ein Mann vom Rettungsdienst zu uns. Zum Glück. Sie schauen nach den beiden im Auto. Wir machen drei Schritte zurück und schauen uns das Auto an. Was läuft da aus? Das ist nur Kühlwasser. In der Luft ist der typische, seltsame und süßliche Unfallgeruch. Eine Mischung aus Batteriesäuredampf, Airbagpulver, Kühlwasser und eigener Nervosität.

Der Gruppenführer kommt zu uns. Wir besprechen kurz wie wir es angehen. „Von hinten her beide Türen links weg zusammen mit der B-Säule? Große Rettungsöffnung?! Dann kommen wir unten besser ran.“ Der Gruppenführer nickt.

Die Notärztin kommt hinzu und erklärt uns, auf was es bei dem Patienten ankommt und dass es eilt, ihn aus dem Fahrzeug zu bekommen. Der Gruppenführer dreht sich zu uns um: „Ihr könnt loslegen“. Einer unserer Kameraden steigt von der Beifahrerseite her ins Auto, um uns von innen zu unterstützen. Es ist ein ruhiges und konzentriertes Arbeiten. Oft geübt und leider schon oft benötigt. Wir entfernen Scheiben, spreizen, schneiden und drücken mit schwerem Gerät. Die körperliche Anstrengung ist groß, aber das spüren wir im Augenblick nicht. Die Notärztin unterbricht uns und möchte eine zusätzliche Öffnung, um den Patienten später besser herausheben zu können.

Der Verunfallte ist endlich frei. Jetzt ist der Rettungsdienst wieder dran. Unser Kamerad im Innenraum unterstützt diesen nach Kräften. Als der Verletzte raus ist, legen sie ihn auf die Trage und fahren ihn zum Rettungswagen.

Ich mache große Augen: hinter dem Rettungswagen steht Christoph 11, der für uns zuständige Rettungshelikopter aus Villingen-Schwenningen. Wie kommt denn der hier her? Zwischen aller Konzentration und Fixierung auf die Unfallrettung habe ich nicht einmal mitbekommen, wie in nicht einmal 50 Metern Entfernung ein Hubschrauber gelandet ist.

Unser Gruppenführer geht zu den beiden Polizisten, die beim Rettungswagen stehen. Nach einer kurzen Unterhaltung kommen Sie auf uns zu: „44-1 packt zusammen. Wer wieder gehen muss, kann dort mitfahren. 44-3 mit dem Rest bleibt hier. Wir müssen noch warten bis ein Gutachter hier war und der Bestatter kommt. Dann müssen wir den Fahrer noch befreien und die Einsatzstelle kurz aufräumen. Das kann aber noch einige Zeit dauern“. Alle packen mit an und räumen die Ausrüstung und Werkzeuge, die wir nicht mehr brauchen werden, wieder in das zweite Löschgruppenfahrzeug. Als wir fertig sind verabschieden sich unsere Kameraden und fahren zurück ins Gerätehaus.

Jetzt heißt es warten. Glücklicherweise ist gutes Wetter. Bei vielen Einsätzen vorher mussten wir bei eisigen Temperaturen frieren oder wurden bei Starkregen nass bis wir weitermachen durften.

Nach etwa einer halben Stunde kommt ein Kombi angefahren. Zwei Männer mit Warnwesten steigen aus. Mit einer Kamera, einer Spraydose und einem Messroller beginnen sie die Einsatzstelle zu dokumentieren. Wenige Minuten später sehen wir aus der Ferne einen großen weißen Kombi heranfahren: der Bestatter ist auf dem Weg hierher.

Der Gruppenführer bespricht sich nochmals kurz mit den Polizeibeamten und dem Bestatter, bis er uns schließlich ein kurzes Kommando gibt „ihr könnt ihn rausholen“. Wieder kommen unsere Schere, Spreizer und Rettungszylinder zum Einsatz. Wieder arbeiten wir konzentriert aber jetzt drängt die Zeit nicht mehr. Es ist in ein seltsames Gefühl einen Toten zu befreien und zu bergen. Das ganze Ausmaß der Verletzungen, die der Fahrer erleiden musste, wird für uns nun sichtbar. Wegschauen geht nicht, da wo es am Schlimmsten ist, müssen wir arbeiten. Immer wieder fragen wir uns, wo wir ansetzen können, ohne dass wir noch mehr zerstören. Nicht nur das, was wir sehen, macht uns zu Schaffen auch der Geruch ist kaum auszuhalten. Das alles wird mich noch lang verfolgen. Alle sind sehr still. Nach 25 Minuten ist die schwierige Arbeit getan.

Wir machen alle wieder mehrere Schritte vom Fahrzeug weg und stehen in der Gruppe zusammen, während der Bestatter mit seinem Kollegen den Verstorbenen pietätvoll und möglichst sanft aus dem Fahrzeug in den neben dem Fahrzeug abgestellten Kunststoffsarg legt. Keiner redet. Schließlich verschwindet der Sarg im Kombi und der Bestatter verabschiedet sich kurz bei uns.

Wir räumen unsere Ausrüstung weg - bis auf die Besen und die Schaufeln - bis wenige Minuten später die beiden Abschleppwagen da sind. Die beiden Fahrzeuge werden aufgeladen während wir die Splitter und Trümmerteile der Fahrzeuge von der Straße in blaue Müllsäcke abfüllen und in die Kofferräume der Unfallfahrzeuge legen.

Der Einsatz ist für uns beendet. Wir fahren zurück Richtung Gerätehaus. Im Fahrzeug ist es ruhig. Gemeinsam reinigen wir das Fahrzeug und füllen alle Verbrauchsmaterialien auf, um es wieder einsatzbereit zu machen.

Es ist mittlerweile 18 Uhr. Meinen Kundentermin habe ich um anderthalb Stunden verpasst. Daher entschließe ich mich dazu, einfach noch im Gerätehaus zu bleiben. Wir sitzen alle noch zusammen an unseren Stammtisch, der für uns wie der Stubentisch im Kreis der Familie geworden ist. Noch bis 21 Uhr reden wir über das Geschehene, aber auch über belanglose Dinge. Das Reden und die Gemeinschaft hilft, das Gesehene und Erlebte zu kanalisieren und zu verarbeiten.

„Was sind wir nur für eine coole Truppe?!“ denke ich mir. Gemeinsam haben wir heute wieder einem Menschen beigestanden, der ohne unsere Hilfe evtl. nicht mehr leben würde. Obwohl wir heute wieder mit dem Tod konfrontiert waren, hilft mir diese Erkenntnis.

Als ich nach Hause komme, muss ich die ganze Geschichte noch mal erzählen. Ich mache das aber gerne, weil es mir hilft, das Geschehene zu verarbeiten. Trotzdem beschäftigt mich der Einsatz noch Stunden als ich später im Bett liege.

Ich bin stolz zu dieser Truppe zu gehören, wo einer für den anderen einsteht, jeder jedem hilft und wir zusammen Aufgaben bewältigen, die eigentlich nicht zu bewältigen sind. Auch dieser Unfall wird mich noch lange beschäftigen und wird von Zeit zu Zeit in mir aufsteigen. Jeder von uns geht anders mit den Erlebnissen und Erfahrungen um, die er gemacht hat. Aber schwer ist es für alle. Die Tatsache, anderen Menschen zu helfen und das Gefühl meine Zeit sinnvoll zu nutzen ist aber Antrieb weiter zu machen.

 

Zum Glück sind nicht viele Verkehrsunfälle so schrecklich wie der Beschriebene. Wir rücken auch oft aus und sehen an der Einsatzstelle, dass wir nicht gebraucht werden. Diese Verkehrsunfälle sind uns die Liebsten!